Projekt: Gleichzeitigkeit in der Interaktion

Krug, Maximilian (2022): Gleichzeitigkeit in der Interaktion. Strukturelle (In)Kompatibilität bei Multiaktivitäten in Theaterproben. Berlin: De Gruyter. DOI (peer reviewed)
Mehrere Tätigkeiten gleichzeitig auszuüben ist ein Phänomen, das uns nicht nur im Alltag, sondern auch in vielen beruflichen Situationen begegnet. Das Dissertationsprojekt beschreibt die Bedingungen, unter denen Menschen mehrere Aktivitäten gleichzeitig ausüben können. Dazu wird auf der Basis von 43 qualitativen Einzelfallanalysen eine Systematik der strukturellen Kompatibilität von multimodalen Beteiligungsweisen entwickelt. Die Datengrundlage bildet ein 200-stündiges Korpus eines Theaterprobenprozesses , der mit Videokameras und mobilen Eye-Tracking-Brillen aufgezeichnet wurde. Die Analysen zeigen, dass der gleichzeitige Vollzug mehrerer Aktivitäten möglich ist, wenn die Interagierenden ihre multimodalen Ressourcen auf mehrere Aktivitäten aufteilen können (strukturelle Kompatibilität). Benötigen zwei Aktivitäten dieselbe Ressource (z. B. die visuelle Blickressource), verhalten sich die Aktivitäten strukturell inkompatibel zueinander. Dieses Koordinationsproblem kann gelöst werden, indem eine der Aktivitäten pausiert oder abgebrochen wird bis die benötigte Ressource wieder verfügbar ist. Erfordert eine Situation jedoch, dass trotz struktureller Inkompatibilität mehrere Aktivitäten gleichzeitig ausgeführt werden, kann der Mangel einer Ressource mit Hilfe von interaktionalen Verfahren - wie Routinisierung, Priorisierung und Synchronisierung - kurzfristig kompensiert werden.

Relevanz des Themas

Zusammenfassung

Der Pager vibriert und die leitende Ärztin eilt zum Patienten Herzstillstand! Mit ihr treffen zwei Assistenzärzte und eine Anästhesistin ein, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Alles für die kardiopulmonale Reanimation fertig machen , ruft sie. Routiniert stülpt sie die Beatmungsmaske über Mund und Nase des Patienten. Gleichzeitig ruft sie dem Assistenzarzt zu: Thoraxkompression, Dreißig zu zwei . Der Arzt nickt kurz und beginnt mit der Herzdruckmassage. Jetzt muss sie sich konzentrieren und genau darauf achten, dass sie immer dann zweimal mit dem Beatmungsbeutel Luft in die Lungen des Patienten pumpt, wenn der Arzt dreißig Mal auf den Oberkörper des Patienten gedrückt hat. Genau in dem Moment fragt die Anästhesistin, welchen Tubus sie vorbereiten soll. Die Teamleiterin dreht sich zur Anästhesistin um und zeigt auf das gesuchte Objekt: Der dort in der Schublade natürlich! Als die Teamleiterin sich wieder zum Patienten zurückdreht, hat sie den Moment zur Beatmung verpasst. Der Sauerstoffanteil im Patienten sinkt ab… Dieses Beispiel ist einer realen Situation in einer Reanimationsübung (Pitsch/Krug/Cleff 2020) nachempfunden. Es demonstriert, dass es Vorgänge gibt, die sich gut miteinander vereinbaren lassen, während andere Prozesse zu Problemen führen können, wenn sie zur selben Zeit durchgeführt werden. Welches sind die Bedingungen, unter denen Menschen zwei oder mehr Aktivitäten gleichzeitig vollziehen können? Was muss man ändern, damit solche kommunikativen Probleme wie im geschilderten Beispiel möglichst nicht auftreten?
Eine Antwort auf diese Fragen scheint das in der Gesellschaft prominente Konzept Multitasking zu liefern. Im Alltagsverständnis beschreibt es die Annahme, man könne zwei oder gar mehr Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Als psychologisches Konzept fokussiert Multitasking aber vor allem kognitive Aufgaben und Probleme, die dann entstehen, wenn zwei Vorgänge geistig nicht kompatibel sind. Schaut man sich das obenstehende Beispiel genauer an, ist fraglich, ob die Teamleiterin wirklich kognitiv nicht in der Lage war, die Informationsfrage zu beantworten und gleichzeitig die Beatmung durchzuführen. Vielmehr scheint das Problem darin zu liegen, dass beide Aktivitäten unterschiedliche Aufmerksamkeitsbereiche und Handgriffe erfordern. Das heißt, dass die beiden Aktivitäten im geschilderten Fall nicht kognitiv , sondern in Bezug auf die Interaktion mit der Anästhesistin strukturell inkompatibel sind. Erweitert man so seinen Blick vom eher individualistischen Multitasking -Konzept der Psychologie auf das interaktionale Konzept Multiaktivität der Interaktionsforschung (Haddington et al. 2014) , fallen plötzlich viele Situationen auf, in denen Menschen gemeinsam mehrere Aktivitäten simultan realisieren. Etwa wenn Menschen Unterhaltungen beim gemeinsamen Abendessen führen (Egbert 1997) , wenn eine Gruppe gemeinsam einen Kuhstall ausmistet (Keevallik 2018) oder sich eine andere über das weitere Vorgehen beratschlagt, während sie einen Schrank aufbaut (Krafft/Dausendschön-Gay 2007) . Schaut man sich diese alltäglichen Situationen nicht psychologisch, sondern mit Blick auf die Interaktionen an, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen zwei oder mehr Aktivitäten zur gleichen Zeit vollzogen werden können – und wann es schwierig ist, zwei Dinge gleichzeitig zu machen.

Modell der strukturellen Kompatibilität: Von der Schwierigkeit zwei Dinge gleichzeitig zu machen

Wie sehen also die strukturellen Bedingungen von gleichzeitigen Aktivitäten aus? Um dieser Frage nachzugehen, ist es nützlich, mehrere Fälle miteinander zu vergleichen . Dazu bieten sich Settings an, in denen eine feste Personengruppe in immer wieder ähnlichen Situationen zusammenkommt: z.B. bei Theaterproben . Darum habe ich in meinem Promotionsprojekt mehrere Videokameras in einem Proberaum aufgestellt und sämtliche 31 Proben einer professionellen Theaterproduktion audiovisuell in unterschiedlichen Perspektiven aufzeichnet ( Krug/Heuser 2018 , Krug 2018 ). So habe ich alle Situationen festgehalten, in denen die Beteiligten mehrere Aktivitäten gleichzeitig vollziehen. Insgesamt habe ich 43 Fälle qualitativ miteinander verglichen.
Aber wie kann man entscheiden, wann es für Interagierende „schwierig“ oder „leicht“ ist, mehrere Aktivitäten gleichzeitig zu koordinieren? Das ist nur möglich, wenn der*die Forscher*in aus dem „Elfenbeinturm“ herabsteigt und sich auf Augenhöhe mit den Teilnehmenden begibt. Denn wir Menschen können in unseren Interaktionen nie in die Köpfe unseres Gegenübers schauen und sind immer darauf angewiesen, dass die anderen uns mit ihren Körpern anzeigen, wie sie eine Handlung verstanden haben . So wird für mich erst klar, dass mein*e Interaktionspartner*in mein Handschwenken als Gruß verstanden hat, wenn er*sie zum Beispiel ebenfalls die Hand hebt und zurückgrüßt. Ein Forschungsprogramm, für das diese Teilnehmendenperspektive zentral ist, ist die Konversationsanalyse (Schegloff 2007) . Konversationsanalytisch zu arbeiten heißt, sich ganz kleinschrittig anzuschauen, welche Handlungen Menschen als Reaktion auf vorherige Handlungen innerhalb einer Interaktion realisieren. Auf diese Weise wird anhand der Koordination der Handlungen (Deppermann/Schmitt 2007) sichtbar, wie und unter welchen Voraussetzungen Interagierende eine Aktivität zugunsten einer anderen abbrechen oder pausieren.
Abbildung 1: Der Schauspieler bricht seine Smartphone-Aktivität zugunsten der Begrüßung ab.
Wie so etwas aussehen kann, illustriert das Beispiel in Abbildung 1 . Darin surft ein Schauspieler zu Beginn einer Theaterprobe mit seinem Smartphone im Internet (1). Er fährt damit auch dann fort, als der Dramaturg der Produktion die Bühne betritt und dem Schauspieler einen guten Tag wünscht. Ohne aufzublicken, erwidert der Schauspieler diesen Gruß mit Moin Moin (2). Der Schauspieler kann hier seine beiden Aktivitäten im Internet Surfen und Grüßen so koordinieren, dass er sie zur selben Zeit ausführen kann. Möglich wird das, weil er seinen Gesprächspartner während des verbalen Grußes nicht anschaut, sondern seinen Blick als visuelle Ressource auf das Smartphone gerichtet lässt. Die Aktivität im Internet Surfen setzt der Schauspieler hier um, indem er das Smartphone mit einer Hand festhält und mit dem Daumen kontrolliert. Von dieser auf dem ersten Blick trivial erscheinenden Beobachtung kann man eine wichtige Voraussetzung für den gleichzeitigen Vollzug mehrerer Aktivitäten ableiten: Die Vorgänge des Körpers (die sogenannten multimodalen Ressourcen) dürfen sich nicht gegenseitig stören, wenn sie für unterschiedliche Aktivitäten verwendet werden. Sie müssen sich strukturell kompatibel zueinander verhalten . Chamäleons sind in der Lage, in unterschiedliche Richtungen zu schauen. Wir Menschen können jedoch anatomisch immer nur ein Blickziel auswählen.
Um also die Begrüßung zeitgleich mit dem im Internet Surfen zu realisieren, koordiniert der Schauspieler die Aktivitäten so, dass er den Blick (visuelle Ressource) und die Hand (haptische Ressource) für das Surfen verwendet und sich lediglich per Sprache (verbale Ressource) an der Begrüßung beteiligt. Durch dieses Aufteilen der Ressourcen auf die Aktivitäten ist es dem Schauspieler möglich, beide Aktivitäten zur selben Zeit zu vollziehen.
Das ändert sich erst, als der Dramaturg mit Na? die Begrüßung ausbaut. Der Schauspieler reagiert darauf, indem er seinen Blick vom Smartphone wendet, den Dramaturgen anschaut und ebenfalls mit Na? antwortet (3). So hält der Schauspieler zwar noch immer die Hand am Smartphone, hat nun aber neben der Sprache auch seinen Blick auf die Begrüßung ausgerichtet. Mit dieser Aufteilung der körperlichen Ressourcen ist es ihm nicht möglich, weiterhin mit dem Smartphone zu surfen: Seine Aktivitäten verhalten sich hier strukturell inkompatibel zueinander . Da er das Smartphone aber weiterhin in der Hand hält, zeigt er dem Dramaturgen und allen anderen Teilnehmenden an, dass er seine Surf-Aktivität wahrscheinlich fortsetzt, sobald seine visuelle Ressource Blick wieder verfügbar wird. Bei diesem Verhalten handelt es sich um eine Fortsetzungsprojektion. Dieses Phänomen tritt regelmäßig auf, wenn Menschen zwei Dinge gleichzeitig machen, aber für beide die gleiche Ressource, z.B. den Blick, benötigen. Menschen pausieren dann eine Aktivität, hier das Surfen im Internet, zugunsten einer anderen (z.B. eine Begrüßung). Solche Fortsetzungsprojektionen pausierter Aktivitäten beinhalten immer, dass ein aktuell laufender Vorgang „eingefroren“ wird wie beim Halten einer Tasse kurz vor dem Mund während gerade gesprochen wird. Da der Dramaturg seine Begrüßung mit der Frage Wie geht’s dir? abermals ausbaut und dem Schauspieler darüber hinaus seine Hand reicht (4), erfordert die Begrüßung neben der verbalen und visuellen nun auch die haptische Ressource des Schauspielers: Er kann mit seiner rechten Hand jetzt nicht mehr das Smartphone festhalten und entscheidet sich dafür, es auf den Tisch gleiten zu lassen und in den Handgruß einzuschlagen. Damit verbleibt nun k eine körperliche Ressource mehr bei der Surf-Aktivität . Sie wird von den Interagierenden als abgebrochen behandelt. In meinen Daten zeigt sich, dass abgebrochene Aktivitäten für die Interagierenden schwieriger wieder aufgenommen werden können, weshalb die Teilnehmenden eher versuchen Aktivitäten zu pausieren als sie abzubrechen. Das Beispiel zeigt, dass die Teilnehmenden zwei zeitgleich auftretende Aktivitäten simultan koordinieren können, wenn sie die Ressourcen so einsetzen, dass sie strukturell kompatibel sind . Verhalten sich Aktivitäten strukturell inkompatibel zueinander, werden sie je nach Grad der Inkompatibilität pausiert oder abgebrochen .
Doch was können Teilnehmende tun, wenn es eine Situation erfordert, dass zwei strukturell inkompatible Aktivitäten nicht abgebrochen oder pausiert werden, sondern simultan vollzogen werden müssen – zum Beispiel während einer Wiederbelebungsmaßnahme wie im Einstiegsbeispiel?
Solche Situationen sind in Theaterproben regelmäßig dann zu beobachten, wenn Szenen geprobt werden. Um nicht bei jedem vergessenen Stücktext wieder von vorne anfangen zu müssen, souffliert eine*r der Beteiligten. Das heißt, wenn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin im Text hängt, sagt die Souffleuse oder der Souffleur den richtigen Stücktext vor. Das erfordert von der soufflierenden Person, dass sie die Performance der Schauspielenden im Textbuch mitliest. Wie erkennt ein*e Souffleur*euse, dass ein*e Schauspieler*in hängt? In den Analysen zeigen sich dahingehend zwei regelmäßige Merkmale. Erstens legen die Schauspielenden vor Texthängern oft eine Sprechpause ein. Allerdings ist es am Theater nicht unüblich, absichtlich dramatische Pausen einzulegen, um das Spiel zu intensivieren. Um eine dramatische Pause von einem Texthänger unterscheiden zu können, muss die soufflierende Person also zweitens die Performance beobachten . Da sie nur entweder das Spiel beobachten oder im Textbuch mitlesen kann, verhalten sich beide Aktivitäten strukturell inkompatibel zueinander. Denn beide Aktivitäten Beobachten und Mitlesen benötigen jeweils den Blick als visuelle Ressource. Wie schafft es eine soufflierende Person trotz dieser strukturellen Inkompatibilität, die Performance zu beobachten und gleichzeitig mitzulesen? Um das herauszufinden, kann man den Blick der soufflierenden Person aufzeichnen. Das ist mit sogenannten mobilen Eye-Tracking-Brillen möglich, die die Sicht des*der Träger*in erfassen. Ein farbiger Kreisring zeigt dabei aus der subjektiven Perspektive an, wohin die Person schaut.
Abbildung 2: Die Regieassistentin souffliert dem Schauspieler. Bild 1 zeigt die Perspektive einer Kamera hinter dem Regietisch. Bilder 2-4 entstammen der Eye-Tracking-Brille der Souffleuse.
Das Beispiel in Abbildung 2 zeigt das Blickverhalten der Souffleuse und demonstriert die Kompensationspraktiken, mit denen die Souffleuse (links in Bild 1) die strukturelle Inkompatibilität der Aktivitäten Beobachten und Mitlesen bearbeitet. Dabei liest sie im Textbuch, während der Schauspieler (rechts in Bild 1) auf der Bühne die Szene spielt (1). Betrachtet man die Eye-Tracking-Daten der Souffleuse (Bilder 2-4) zeigt sich, dass sie mit ihren Händen eine Art Raster formt, um nicht in der Zeile zu verrutschen (2). Sie liest im Textbuch, was der Schauspieler sagt. Dieser legt zuerst eine Sprechpause von 0.4 Sekunden ein und äußert dann ein gedehntes Verzögerungssignal äh . Da das ein Element ist, das nicht im Textbuch verzeichnet ist, schaut die Souffleuse auf und den Schauspieler an (3). Hier kann sie beobachten, dass der Schauspieler in seinem Spiel eingefroren ist und sich nicht mehr bewegt. Sie interpretiert dies nicht als eine dramatische Pause, sondern als eine Situation, in der der Schauspieler im Text nicht weiterweiß. Damit die Szene nicht abgebrochen werden muss, sagt sie den fehlenden Text ( Ich steh immer noch regungslos da) vor. Der Texthänger ist überwunden, als der Schauspieler den Text aufnimmt und in sein Spiel integriert (4). Das ist der Moment, in dem die Souffleuse ihren Blick wieder in das Textbuch senkt. Wie der Eye-Tracking -Kreisring zeigt , l andet ihr Blick zielsicher an ihrem Stift als Teil des Rasters . Das hilft ihr dabei, ihre Mitlese-Aktivität schnell wieder aufzunehmen, ohne die richtige Zeile suchen zu müssen.
Wie diese Rekonstruktion der Ereignisse zeigt, ist es keineswegs so, dass die Souffleuse die strukturelle Inkompatibilität der Aktivitäten Beobachten und Mitlesen gänzlich auflösen kann. Sie kann nach wie vor entweder den Schauspieler anschauen oder im Textbuch lesen. Aber sie greift auf Praktiken zurück, die das Fehlen der visuellen Ressource zumindest kurzzeitig kompensieren . So liest sie solange im Textbuch mit, bis sie einen Hinweis auf einen Texthänger bekommt. Diese Hinweise bestehen in allen untersuchten Fällen aus dem Muster Sprechpause und gedehntes Verzögerungssignal . Spannend daran ist, dass das weder ein vorher ausgemachtes Zeichen ist, noch etwas, dass Schauspielende in ihren Ausbildungen lernen. Die Souffleuse gibt nur bei einem konkreten Hinweis auf einen Hänger ihren Blick auf das Textbuch auf, um den Schauspieler anzuschauen . Falls dieser hängt, verbalisiert sie das eben Gelesene. Das bedeutet, dass sie nicht nur antizipierend mitliest , sondern auch in der Lage ist, einen ganzen Satz zu wiederholen, wenn sie den Schauspieler anschaut. Auf diese Weise wird das Mitgelesene in der Beobachtung verfügbar gemacht . Da die Souffleuse ihr Mitlesen sofort wieder aufnimmt, als der Schauspieler im Text fortfährt, minimiert sie die Zeit, in der sie nicht mitlesen kann. Das koordinative Handeln der Souffleuse ist demnach durch drei Verfahren gekennzeichnet: a) Routinisierung, b) Synchronisierung und c) Priorisierung . a) Routinisierung: Mithilfe des Textbuchs ist der Ablauf der Szene und die zukünftigen Äußerungen der Schauspielenden für die Souffleuse erwartbar, was ihr antizipierendes Mitlesen ermöglicht. b) Synchronisierung: Während des Mitlesens schaut die Souffleuse stets jene Textstellen an, die der Schauspieler gerade performt und bei denen er potentiell hängen könnte. c) Priorisierung: Die Souffleuse zieht ihre visuelle Ressource immer nur dann für einen minimal kurzen Augenblick von einer Aktivität ab, wenn in der jeweils anderen Aktivität Handlungsbedarf besteht. Durch diese Verfahren schafft es die Souffleuse natürlich nicht, sich ein zweites Paar Augen wachsen zu lassen. Aber sie kann das Fehlen der visuellen Ressource so kompensieren, dass keine der gleichzeitig relevanten Aktivitäten abgebrochen oder pausiert werden muss.

Anwendungsmöglichkeiten

Die Analysen zeigen also, dass wir bestimmte strukturelle Bedingungen brauchen, um mehr als eine Aktivität gleichzeitig durchzuführen. Mehrere Aktivitäten zeitgleich zu vollziehen ist möglich, wenn wir unsere körperlichen Ressourcen auf die Aktivitäten aufteilen können (strukturelle Kompatibilität). Benötigen zwei Aktivitäten dieselbe Ressource (zum Beispiel die visuelle Ressource Blick ) zur Umsetzung, sind sie strukturell inkompatibel. Dann kann eine der Aktivitäten abgebrochen oder pausiert werden, bis die Ressource wieder verfügbar ist. Erfordert eine Situation aber, dass mehrere Aktivitäten trotz struktureller Inkompatibilität zeitgleich realisiert werden, kann mithilfe der interaktionalen Verfahren Routinisierung, Priorisierung und Synchronisierung das Fehlen einer Ressource kurzzeitig kompensiert werden. Dieses Phänomen nennt sich „Multiaktivität“. Wie das Beispiel der Souffleuse demonstriert hat, ist es für sie sehr wichtig, auf diese Techniken zurückzugreifen, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Nun stellt sich die Frage, ob dieses Wissen auf Soufflage-Situationen beschränkt bleibt oder ob es nicht möglicherweise weitere Anwendungsgebiete gibt. In künstlerischen Gebieten spielt die Gleichzeitigkeit mehrerer Aktivitäten immer dann eine wichtige Rolle, wenn etwas erarbeitet wird, während es getan wird. Bei der Erarbeitung von Szenen (Krug 2020a) wird etwas performt, während es zur selben Zeit kommentiert und dadurch verändert werden kann (Krug 2020b) . Die Gleichzeitigkeit von Aktivitäten ist hier die strukturelle Voraussetzung für kreative Arbeit . Das trifft darüber hinaus auf viele didaktische Bereiche zu. In Tanzstunden kann ein Tanz vorgeführt und gleichzeitig erklärt werden, in beruflichen Einarbeitungen kann eine Maschine betätigt und ihre Funktionsweise zur selben Zeit erklärt werden und in der Schule kann ein Experiment vorgeführt und die dahinterliegenden physikalischen Gesetze erläutert werden. In allen diesen Beispielen wird die Simultanität von Aktivitäten als Chance für die Vermittlung komplexer Zusammenhänge verstanden und wird daher häufig angewendet. Doch was passiert, wenn das zeitgleiche Auftreten von Aktivitäten in einer Situation ein Problem darstellt? Das konnten wir im Anfangsbeispiel der Wiederbelebungsmaßnahme deutlich erkennen: Hier müssen Ärzte*innen mehrere Aktivitäten gleichzeitig durchführen, die zum einen hochgradig zeitkritisch aber zum anderen nicht immer miteinander kompatibel sind. Wie aktuelle Studien zeigen, überleben nur 10% der etwa 700.000 Personen, die in Europa jedes Jahr einen Herzstillstand erleiden, eine Wiederbelebungsmaßnahme (Gräsner et al. 2014) . Einige dieser fehlgeschlagenen Wiederbelebungsversuche sind auf Probleme in der Teamkommunikation zurückzuführen (Castelao et a. 2013) . Wie eine erste Studie (Pitsch/Krug/Cleff 2020) zeigt, treten manche davon dann auf, wenn die Teamleitung ihr Team anweist und gleichzeitig eine oftmals komplexe medizinische Maßnahme durchführt. Da die Aktivitäten häufig strukturell inkompatibel sind, steht die Teamleitung vor einem Dilemma: Soll sie ihren Teamkollegen*innen die nächsten Schritte instruieren, was den Fortlauf der Wiederbelebung sichert, aber dadurch riskieren, die Beatmung des*r Patienten*in kurzzeitig auszusetzen, was eine Sauerstoffunterversorgung zur Folge und damit bleibende Schäden als Folge haben könnte? Im schlimmsten Fall versucht die Teamleitung beiden Anforderungen gerecht zu werden und scheitert doppelt: Ein nicht richtig instruiertes Team kann Wiederbelebungsmaßnahmen schlecht vorbereiten und eine nicht durchgeführte Behandlung am Patienten kann schwerwiegende Folgen haben. Mit dem hier vorgestellten Modell der strukturellen Kompatibilität können solche kommunikativen Probleme systematisch identifiziert, beschrieben und bearbeitet werden. Es kann insbesondere Medizinier*innen darin unterstützen, Aufgaben so zu verteilen, dass immer nur kompatible Aktivitäten gleichzeitig realisiert werden müssen. Das Modell liefert damit beispielsweise ein strukturelles Argument dafür, dass die Teamleitungen möglichst keine medizinischen Handgriffe ausüben sollten, sondern sich lediglich auf ihre leitenden Tätigkeiten konzentrieren sollten . Mit diesem Wissen zur strukturellen Kompatibilität von Aktivitäten, das in medizinischen Einrichtungen gut trainiert werden kann, lassen sich hoffentlich in Zukunft einige Menschenleben retten .

Projekthistorie

März bis April 2016: audiovisuelle Datenerhebung am Theater April bis Juni 2016: Datenaufbereitung (Synchronisation, Dokumentation, Export) September 2016: Präsentation erster Ergebnisse auf dem GAL Kongress in Koblenz („Soufflage in Theaterproben. Ko-Konstruktion von Spielhandlungen durch Multiactivity“) Dezember 2016: Analyse und Diskussion der Daten an der RWTH Aachen unter der Leitung von Marvin Wassermann („Entkleiden in Interaktionen. Multimodale Koordinierungen multipler Aktivitäten am Rand von Theaterproben“) April 2017: Datensitzung im Rahmen des Workshops Seeing and Noticing – Videoanalysis in Action (V), Gattungen, Formen und Strukturebenen in Bayreuth („Probieren in Theaterproben als kommunikative Gattung?“) Juni 2017: Vortrag auf der ICMC in Osnabrück („Rehearsing in theatre: Collective achievement of an interactional system through the coordination of multiple activities“) Juli 2017: Diskussion der Eye-Tracking-Daten in Interaktionen auf der IPrA in Belfast („Eye-Tracking in theatre: Coordinating multiple activities during a theatre rehearsal“) November 2017: Beginn der Arbeit am Themenhelft zu Instruktionen in Theater- und Orchesterproben gemeinsam mit Axel Schmidt, Monika Messner und Anna Wessel Juli 2018: Reflexion der Datenerhebung auf der ICCA in Loughborough („Collecting Audio-Visual Data of Theatre Rehearsals. (Non-)Intrusive Practices of Preparing Mobile Eye-Tracking Glasses during Ongoing Workplace Interactions“) September 2018: Veröffentlichung zur Frage, wie sehr meine Datenerhebung den Probenprozess gestört hat in Krug, Maximilian & Heuser, Svenja (2018): Ethik im Feld: Forschungspraxis in audiovisuellen Studien. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 19(3), Art. 8. September 2018: Gemeinsame Performance mit Anna Wessel im Rahmen des Poster Slams der GAL in Essen gewinnt den GAL Posterpreis. Januar 2019: Beginn der gemeinsamen Arbeit mit Anna Wessel an Wiederholungen in Theaterproben im Rahmen des Workshops Sprachlich-kommunikative Praktiken im Umfeld von Kunstinstitutionen. Multimodale und -mediale Perspektiven auf öffentliche Kommunikation an Justus-Liebig-Universität Gießen („Praktiken des Wiederholens in Theaterproben“) Januar 2020: Abgabe der Dissertation August 2020: Verteidigung der Disseration (summa cum laude) November 2020: Veröffentlichung: Krug, Maximilian (2020): Erzählen inszenieren. Ein Theatermonolog als multimodale Leistung des Interaktionsensembles auf der Probebühne. In: Linguistik online 104 (4), S. 59–81. Dezember 2020: Abschluss der Arbeit am Themenhelft zu Instruktionen in Theater- und Orchesterproben gemeinsam mit Axel Schmidt, Monika Messner und Anna Wessel. Darin u.a. enthalten: o Krug, Maximilian; Messner, Monika; Schmidt, Axel; Wessel, Anna (2020): Instruktionen in Theater- und Orchesterproben: Zur Einleitung in dieses Themenheft. In: Gesprächsforschung Online 21, 155-189 o Krug, Maximilian; Schmidt, Axel (2020): Zwischenfazit: Sukzessive und simultane Verzahnung von Spiel- und Besprechungsaktivitäten – eine Instruktionsmatrix für Proben. In: Gesprächsforschung Online 21, 264-277 o Krug, Maximilian (2020): Regieanweisungen "on the fly". Koordination von Instruktionen und szenischem Spiel in Theaterproben. In: Gesprächsforschung Online 21, 238-267 Februar 2022: Veröffentlchung der Dissertation. Open Access!
Open Access!
Rezension zur Monographie von Marie Klatt (2023) in Gesprächsforschung Online, 23, 307-314. URL
Dr. Maximilian Krug Interpersonal Communication Research
In my current research, I investigate conflict in interpersonal communication . I explore disagreements and disalignments in multimodal face-to-face interaction and examine incivility and reactance in online communication . Furthermore, I engage in science communication and ask myself how scientific findings can be presented to the public in a meaningful way.
Find me and my research on:
Overcoming Blanking: Verbal and Visual Features of Prompting in Theatre Rehearsals In: Human Studies, 2023 https://doi.org/10.1007/s10746-023-09670-w In theatre rehearsals, actors can occasionally be seen getting stuck in the play text, which is called blanking. To overcome such textual difculties and continue with the given text, a prompter can verbalize the line in question, thus contributing to an actor’s word search by prompting. The paper focuses on interactional practices by which prompters and actors interactionally resolve blanking situations. This study’s data comprises a case collection of 67 prompting situations, which are taken from a 200-h video corpus of a rehearsal process at a professional theatre. These cases demonstrate how theatre professionals organize prompting situations and how they negotiate/sanction prompting actions such as when there was no blanking but a dramatic pause or when the dramatic performance is interrupted due to a missing prompt. In addition to the audiovisual recordings, eye tracking data of the person prompting is also used to describe the coordination of the visual resources in the context of multimodal interaction analysis. The analysis suggests that prompting and blanking persons interactively resolve blankings with the help of verbal and visual markers.